Wer nach Ladakh reist, ist üblicherweise erst einmal begeistert über die herzlich netten Männer und die fröhlichen Frauen. Es ist dann schwer vorstellbar, dass es auch Schattenseiten gibt. Aber warum sollte Ladakh davon verschont sein?
Zwar weiß ich inzwischen um Schattenseiten wie Alkohol, Selbstmordraten, Kastengesellschaft – und auch Fälle von sexueller Belästigung bis hin zu Vergewaltigungen kamen mir zu Ohren. Und dann ging ich einen Schritt weiter….
Als mich meine ladakhische Freundin D. bat, etwas zu ihrem Unterricht beizutragen, wehrte ich zuerst ab. Ich wüsste nichts, was nicht auch Einheimische machen könnten. Aber dann kam mir doch eine Idee: Ich würde von einigen sexuellen Belästigungen erzählen, die ich in meinem Leben (u.a. auch im Umfeld Ladakh/Indien) erfahren hatte. Das Thema ist einfach universell und wichtig. Und wir würden schauen, was sich dann ergeben täte.
D. ist recht aktiv auf diesem Gebiet und wir hatten uns bereits mehrere Geschichten privat erzählt. Sie war insbesondere in einem Fall eines Arztgehilfen tätig, der Mädels unter dem Vorwand von ärztlicher Untersuchung ungebührlich anfasste. Der Mann kam vor Gericht, der Fall fand seine Öffentlichkeit, die ladakhische Bevölkerung unterstützte mit Demos usw. – aber nach mehr als einem Jahr ist er immer noch nicht verurteilt. D. muss öfters zum Gericht in der Hoffnung, die Sache voranzutreiben, aber dabei ist sie inzwischen ganz allein.
Ich fuhr also zu ihr in den Changthang und wir luden zwei Klassen ein: zuerst jüngere Mädels, dann ältere. Die Jüngeren hatten zum Glück kaum Geschichten zu erzählen. Bei den Älteren wurde es dagegen sehr intensiv und emotional. Es rückten immer mehr mit Geschichten raus und auch uns fielen noch mehr ein. Ein Mädel erzählte ihre Geschichte das erste Mal überhaupt (sie mochte es weder bester Freundin noch Eltern sagen) und kämpfte dabei mit den Tränen. Auch mir und anderen standen welche in den Augen.
D. und ich versprachen, dass keine Geschichte diesen Raum verlassen würde – deswegen bleibe ich hier auch sehr unkonkret.
Und trotzdem drängt etwas in mir, es etwas öffentlicher zu machen. Damit Menschen wissen, dass auch bei den nettesten Menschen solche Sachen vorkommen. In der Hoffnung, dass „wir alle“ ein offenes und verschwiegenes Ohr haben, damit die Geschichten wenigstens erzählt werden und die Betroffene sich nicht ganz allein damit fühlt. So wie auch ich (früher) mit manchen Geschichten. In der Hoffnung, dass wir mehr aufeinander achten. Und mit dem Wissen, dass wir nicht die einzigen sind, unsere Stimme öfters laut werden lassen. Das wirkt in der Öffentlichkeit so gut wie immer. Und es ist nicht nur beschämend für den Belästiger, sondern wohltuend für uns und Prävention für Andere.
Vor mehr als 20 Jahren fuhr ich in einem vollen Bus in Ladakh und musste stehen. Ein Mann kam mir unangenehm zu nahe. Ich entwand mich. Und sah kurz darauf, dass er bei einer anderen genau das Gleiche wiederholte. Es ist mir noch heute peinlich, dass ich nicht laut wurde. Dabei war ich damals „eigentlich“ dazu in der Lage.
Ladakh ist eine ganz andere Gesellschaft als die In Deutschland. Von daher stehe auch ich erst einmal ratlos davor, was weiter zu tun ist. D. hat allen Mädels angeboten, ihren Geschichten zuzuhören und ggf. etwas zu unternehmen. Aber auch sie weiß nicht wirklich weiter. „Deutsche Konzepte“ taugen nur bedingt.
Und doch sind wir froh, diesen kleinen Schritt getan zu haben. D. hatte eine super Art, zu den Mädels zu reden. Den Mädels tat es offensichtlich auch ganz gut – sie wollten danach nicht so leicht auseinander gehen, sondern hingen noch gemeinsam im Raum rum. Und die Tränenkämpfende sagte, sie fühle sich jetzt ein wenig erleichtert. Trotzdem: so ein Kack, dass so viel passiert 🙁